K. Weber: Umstrittene Repräsentation der Schweiz

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Titel
Umstrittene Repräsentation der Schweiz. Soziologie, Politik und Kunst bei der Landesausstellung 1964


Autor(en)
Weber, Koni
Reihe
Historische Wissensforschung
Erschienen
Tübingen 2014: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 59,00
von
Jörg Potthast

Natürlich kann bei einer Landesausstellung einiges schief gehen. Der Kostenplan mag daneben liegen; es mag zu wenige Parkplätze geben; Ideen für die Nachnutzung mögen sich als unbrauchbar herausstellen. Wer sich solche Probleme einhandelt, blamiert sich vor den Augen der Welt. Das sollte bei einer Landesausstellung zwar nicht passieren, exponiert aber nur Schwächen in Sachen technischer Expertise. Koni Weber dokumentiert, wie sich die Schweiz anlässlich ihrer Landesausstellung 1964 in anderer Hinsicht und wohl viel gründlicher blamiert hat. Seine Geschichte gipfelt in einem Medienskandal um die Repräsentation der Schweiz und berührt die Geschichte sozialwissenschaftlicher Expertise. Zugleich bedient sich der Autor selbst einer sozialwissenschaftlichen Argumentationsweise: Statt die Blamage einem besonders bornierten Delegierten des Bundesrats, allzu zaghaften soziologischen Gutachtern, einem ausnehmend eitlen künstlerischen Leiter oder der Summe ihrer individuellen Fehlleistungen zuzurechnen, sieht er strukturelle Effekte am Werk. Eine Kaskade von Ereignissen lasse sich mit Gewinn rekonstruieren, wenn dafür die Eigenlogiken des sozialwissenschaftlichen, des politischen und des künstlerischen Feldes in Rechnung gestellt werden (S. 316).

Weber arbeitet mit Quellen, die relativ leicht zugänglich sind. Insofern ist er zunächst Nutzniesser einer Kontroverse, die umfängliche Materialbestände hervorgebracht hat. Zugleich weiss er diese Quellenlage in einer Weise zu nutzen, die durch seine Aufmerksamkeit für die kulturellen Logiken der genannten Felder geschult ist. In diesem Sinn verfolgt seine historiografische Rekonstruktion «umstrittene[r] Repräsentation[en]» eine kulturalistische Orientierung. Ihr Fokus auf die Kontroverse sorgt dafür, dass die Erfindung nationaler Tradition und die Vergewisserung nationaler Gegenwart nicht in einen geschlossenen Diskurs verlegt, sondern in Verhandlungskonstellationen zwischen Politik, Kunst und Sozialwissenschaften verortet wird. Man braucht nicht unbedingt die Schweiz und das Jahr 1964, um sich zu vergegenwärtigen, dass im Zusammenspiel der genannten Felder keine konvergierende Repräsentation (nationaler Identität) zustande kommt. Vieles an diesem bisweilen provinziell und rückständig anmutenden Fall liest sich wie eine Experimentalanordnung: Das macht ihn zu einem Exemplar kulturalistisch gewendeter Geschichtsschreibung (S. 12–17), bereichert die wissenschaftshistorische Reflexion der Sozialwissenschaften (S. 17– 21) und ihrer konstitutiven Praxisbezüge (S. 25–27).

Genau genommen ist der Gegenstand von Webers Untersuchung nur ein Teil der Landesausstellung: ein demoskopisches Experiment, das dann kurzfristig abgesagt werden musste. Übrig blieben von dem geplanten Experiment nur Teile seiner Inszenierung, in Gestalt des Riesen Gulliver, der sich im Rahmen einer (an Gallup-Methoden orientierten) Vorstudie wie ein reisender Ethnologe Aufschluss über «einen Tag in der Schweiz» verschafft hatte. Die Besucherinnen und Besucher der so benannten Teilausstellung wurden entlang eines Rundgangs mit den ethnografischen Berichten und Fundstücken dieser Kunstfigur konfrontiert und zur Teilnahme an einer extensiven Befragung eingeladen. Der experimentelle Anteil des Gulliver-Spiels wurde jedoch unter politischem Druck (Hans Giger für den Bundesrat) und auf Grundlage zweier ad hoc angeforderter soziologischer Gutachten (Jürg Steiner, Urs Jaeggi), die den wissenschaftlichen Charakter dieser Befragung bezweifelten, abgesetzt: Die Festivalleitung rückte von dem Vorhaben ab, die Umfrageergebnisse mit jenen der Vorstudie abzugleichen und über eine grossflächige Anzeigetafel laufend zu aktualisieren (S. 228). Zugleich strich sie Fragen, die als politisch heikel gelten mussten (u.a. zu Themen wie Abtreibung, Kriegsdienstverweigerung und EWG-Beitritt) (S. 201ff.).

Seit sich Meinungsforschung in grossem Massstab auch in der Schweiz etablieren konnte, mutet die Aufregung um diese Eingriffe befremdlich an. Was inzwischen ein etabliertes Kerngeschäft sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis geworden ist, geschah hier im Spannungsfeld widerstrebender Vorstellungen valider Repräsentation. Die Befürworter politischer Interventionen sahen im Gulliver-Experiment kein Spiel, sondern eine illegitime Verbindung aus einem unautorisierten Plebiszit und wissenschaftlich fragwürdigen Methoden. Unter anderem wurde moniert, dass die öffentlich angezeigte Meinung durch mehrfache Teilnahme an der Umfrage manipuliert werden konnte. Die schärfsten Kritiker an den Interventionen monierten einen Verrat an einer neuen, wahrhaft pluralistischen und dauerhaft deliberativen Form demokratischer Öffentlichkeit, die im Moment ihrer Befreiung von elitärer Bevormundung sogleich wieder eingehegt worden sei (S. 252– 258). Weber registriert diese Kritik, die zwei Monate nach Eröffnung der Landesausstellung über die Tagespresse ging, mit Sorgfalt, verlässt dann aber unvermittelt den Kontext dieser Auseinandersetzung. Statt um die wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Anteile an einem in-situ-Experiment mit technisierter Demokratie geht es im Folgenden um das Schicksal der in grosser Zahl beantworteten Fragebögen (diesen bleibt nach einem negativen Bescheid durch den Schweizerischen Nationalfonds eine Auswertung versagt; S. 275–279) und der Vorstudie (diese wird über Vermittlung seines Vorgesetzten, Pierre Bourdieu, in Paris von Luc Boltanski bearbeitet; S. 279–308).1

Eine Affäre um die kollektive Selbstdarstellung, die bis dahin minutiös als ein wildes Experiment geschildert wurde, wird darüber schlagartig neutralisiert. Weber schildert zwar anschaulich und akkurat die praktischen Umstände, unter denen das Material nun weiter bearbeitet wurde. Er beweist in diesen Passagen einen Blick für das Handwerk quantitativer Sozialforschung. Aber es geht nun einfach nicht mehr um ein Experiment zum «Alltag in der Schweiz» unter sozialwissenschaftlicher Beteiligung, sondern um Routinen im Forschungsalltag einer nachgelagerten Auswertung. Indem er Boltanski (1966) bei seiner Interpretation nicht nur «in einen neuen Kontext» folgt (S. 242), sondern beipflichtet, riskiert Weber die konzeptuelle Anlage seiner Arbeit. Er widerspricht den Befürwortern des abgebrochenen Experiments, die darin, sei es in Gestalt einer prekären und für Kritik anfälligen Kombination wissenschaftlicher und künstlerischer Elemente, eine Chance erkannten, das Niveau deliberativer Partizipation zu steigern. Mit Boltanski (1966) wendet er dagegen ein, dass ein solches Versprechen gar nicht eingelöst werden könnte. Es wäre zum Scheitern verurteilt, weil die Mitspielkompetenz nicht gleichmässig verteilt, sondern auf eine bildungsaffine Mittelschicht zugeschnitten sei. Für Angehörige anderer Klassenlagen eröffne sich mit der Befragung keineswegs eine spielerische Gesprächssituation. Vielmehr drohe ihnen ein symbolischer Ausschluss. Demnach hat sich beim Experimentieren mit einer neuen Praxis der Repräsentation nationaler Identität ein gravierender methodologischer Fehler eingeschlichen. Entgegen der Annahme, dass den Befragten ein neutrales Untersuchungsinstrument vorliege, sei davon auszugehen, dass dieses Experiment Klassenlagen und ihre Gegensätze leugne (S. 293–299). Auch in den Augen des Verfassers wurde das Experiment insofern zurecht abgebrochen. Weber bekräftigt dies, indem er seine Erzählung an dieser Stelle enden lässt. Möchte man den hier rekonstruierten Fall pars pro toto als eine Parabel lesen, dann sieht man also die rasche Normalisierung einer Disziplin am Werk, die in den frühen Tagen ihrer Expansion mehr mit starken exogenen Kräften des politischen und des künstlerischen Feldes zu tun hatte, als es später bereinigte disziplinäre Selbstbeschreibungen wahrhaben möchten. Je verbindlicher aber diese Festlegung, desto schwerer dürfte es fallen, gegen die normalisierenden Kräfte Überlagerungen und Umbrüche in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis offenzulegen.2

Erst folgt Weber bis in die Details einer erhitzten Diskussion zwischen Repräsentanten der politischen Elite, Theaterleuten und einigen Soziologen aus dem In- und Ausland. Nun soll die ganze Kontroverse gegenstandslos sein? Kommt es am Ende doch nicht auf die Analyse heterogener Wissensbestände an? Wird hier ein kulturalistisch gestartetes Projekt von einer marxistisch grundierten, also typisch sozialhistorischen Einsicht eingeholt? Bleiben kultur- und sozialgeschichtliche Standards unvermittelt nebeneinander stehen? In dieser Hinsicht lässt das Buch Fragezeichen zurück.3 Zwischenzeitlich aber zieht die vorliegende Arbeit die Geschichtswissenschaft von den zuletzt genannten und eher vertrauten Auseinandersetzungen auf wenig gesichertes Terrain. Nationale Identität wird gewissermassen in einem Niemandsland verhandelt. Dieser Zwischenraum, vorübergehend von niemandem besetzt, institutionell über- und unterbestimmt, bietet das Milieu für eine Versuchsanordnung, die Weber unter Berufung auf die Laborstudien als einen Prozess der Heterogenese beschreibt. Wie der Autor selbst festhält, trifft diese (Labor-) Perspektive keine Vorauswahl zugunsten erfolgreicher Fälle (S. 26). In der Tat scheitert der Versuch, nationale Identität unter Mitwirkung der Meinungsforschung und in spielerischer Form neu auszuhandeln, auf blamable Weise. Das gibt auch der soziologiehistorisch interessierten Forschung einen Impuls, der über den helvetischen Fall (selten, aber wenn, dann, bis zuletzt, als Sonderfall betrachtet4 hinausreicht. Im Verbund mit sozial- wissenschaftlicher Expertise schickt sich ein Apparat zur Speicherung und Aufbereitung von Daten (IBM) an, die Bühne zu betreten. Sieht man einmal davon ab, dass dies eine ungewöhnlich grosse Bühne ist und dass hier das nationale Selbstverständnis zur Neuaushandlung gebracht werden soll, bleibt festzuhalten, dass dieser Apparat seinerseits technische Fertigkeiten erforderlich macht. Insofern sind bei dieser Experimentalanordnung auch Technik und technische Expertise im Spiel. Wir können also aus Webers Rekonstruktion lernen, dass sich sozialwissenschaftliche Expertise nicht (als Idee) in Abgrenzung zu technischer Expertise und auch nicht nach ihrem Vorbild (als Sozialtechnologie) entwickelt. Vielmehr tritt sie in ein ungeklärtes Verhältnis der Ko-Evolution mit technischer Expertise. Daraus ergibt sich die historiografische Herausforderung, den Status dieses und anderer Experimente weiter zu klären. So sehr wir uns an Blamagen und Medienskandale gewöhnt haben, bieten solche Situationen, diesseits von Schadenfreude und Besserwisserei, heuristische Vorteile.

1 Luc Boltanski, Le bonheur suisse d’après une enquête réalisée par Isac Chiva, Ariane Deluz, Nathalie Stern, Paris 1966. Weber urteilt positiv über diesen Umweg. Die Bearbeitung jenseits der Landesgrenzen habe, befreit von den Zwängen des Identitätsdiskurses, eine professionelle sozialwissenschaftliche Auswertung ermöglicht. Der Einfluss des Buchs lässt sich u.a. daran ermessen, dass sein Titel kurz darauf (etwas modifiziert) im Kontext der Auseinandersetzung um Verflechtungen mit der Nazi-Diktatur aufgetaucht ist (Jean-Baptiste Mauroux, Du bonheur d’être suisse sous Hitler, Lausanne 1997/1968). Für eine in ihrer Anlage der vorliegenden verwandte Analyse umstrittener Repräsentationen der Schweiz in diesem Kontext, vgl. Cédric Terzi, «Qu’avez-vous fait avec l’argent des Juifs?» Problématisation et publicisation de la question «des fonds juifs de l’or nazi» par la presse suisse, 1995–1998, Thèse présentée à la Faculté des sciences économiques et sociales de l’Université de Fribourg (Suisse) 2005.
2 Vgl. etwa Dominique Boullier (2017): Big Data Challenges for the Social Sciences: From Society and Opinion to Replications, in: Franck Cochoy, Johan Hagberg, Magdalena Petersson McIntyre, Niklas Sörum (Hg.), Digitalizing Consumption. Tracing How Devices Shape Consumer Culture, London 2017, S. 20–41.
3 Weiterhin trägt zur Verwirrung bei, dass sich Boltanski, hier Gewährsmann für ein abrupt ideologiekritisches Fazit, von dieser Position in der Folge besonders konsequent abgewendet hat: (Ideologie-)Kritik sei nicht der soziologischen Deutung vorbehalten, sondern als alltägliches Element sozialer Ordnungsbildung zu untersuchen. Gestützt auf eine Überblicksdarstellung referiert Weber diese später von Boltanski programmatisch vertretene Position (S. 287), ohne jedoch auf die Kehrtwendung aufmerksam zu machen, die sich aus der Beschäftigung mit alltäglichen und wissenschaftlichen Zuordnungen zu Kategorien ergab. Vgl. dazu Luc Boltanski, Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie kritischer Urteilskraft, Hamburg 2007; dies., Finding One’s Way in Social Space. A Study Based on Games, in: Social Science Information 22, 4/5 (1983), S. 631– 680.
4 Für einen aktuellen Überblick, vgl. Thomas Eberle, Niklaus Reichle, Soziologie in der Schweiz seit 1945, in: Stephan Moebius, Andrea Ploder (Hg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, Wiesbaden (2018/online first), S. 1–38.

Zitierweise:
Jörg Potthast: Rezension zu: Koni Weber, Umstrittene Repräsentation der Schweiz. Soziologie, Politik und Kunst bei der Landesausstellung 1964, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 427-431.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 427-431.

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